Kommentar

Militärisch wird die Hamas in dem Krieg nicht siegen können, ihr zynisches Kalkül könnte aber aufgehen

Mit dem brutalen Angriff auf Israel wollen die Islamisten wohl eine Annäherung an Saudiarabien torpedieren. Damit dürften sie Erfolg haben. Ohne politische Lösung für den Gazastreifen wird Israel dem Kreislauf der Gewalt nicht entkommen.

Ulrich von Schwerin 84 Kommentare 3 min
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Palästinenser posieren mit einem brennenden Panzer an der Grenze zwischen dem Gazastreifen und Israel.

Palästinenser posieren mit einem brennenden Panzer an der Grenze zwischen dem Gazastreifen und Israel.

Hatem Ali / AP

Der heimtückische Angriff der Hamas hat Israel kalt erwischt. Obwohl die Operation wohl seit Monaten in Planung gewesen war, wurden Geheimdienst und Militär komplett überrascht. Zwar wird die Palästinensermiliz genau überwacht, die Grenzen zum Gazastreifen sind hoch gesichert. Trotzdem konnte die Terrorgruppe unbemerkt Tausende Raketen in Stellung bringen und mit Hunderten von Kämpfern nach Israel eindringen, wo sie wahllos Zivilisten brutal ermordeten oder als Geiseln nahmen. Für die Islamistengruppe ist das ein beispielloser Erfolg.

Noch nie ist es militanten Palästinensern gelungen, ganze Ortschaften in Israel zu besetzen. Noch nie haben sie so viele Israeli in ihre Gewalt bringen können. Allein am ersten Tag des Krieges wurden 25-mal so viele Israeli getötet wie im letzten Gazakrieg im Mai 2021. Für die Israeli sind der überraschende Angriff und das Versagen von Militär und Geheimdienst ein Schock, der ihr Gefühl von Sicherheit grundlegend erschüttert und noch lange nachwirken wird.

Trotz diesen ersten Erfolgen der Hamas stellt sich die Frage, was ihr Kalkül ist, plötzlich alle Register zu ziehen. Denn so präzedenzlos der Angriff ist, so wird auch die Reaktion Israels alles übertreffen, was man bisher gesehen hat. In früheren Jahren hat Israel mit aller Härte auf die Entführung eigener Bürger reagiert. Nun, da Dutzende Israeli in der Hand der Hamas sind, wird Israel erst recht hart durchgreifen. Eine Bodenoffensive im Gazastreifen ist wahrscheinlich.

Die israelische Luftwaffe flog noch am Samstag Dutzende Angriffe und legte in Gaza ganze Wohnhäuser in Trümmer.

Die israelische Luftwaffe flog noch am Samstag Dutzende Angriffe und legte in Gaza ganze Wohnhäuser in Trümmer.

Mustafa Hassona / Anadolu / Getty

Eine Normalisierung mit Riad ist wohl vom Tisch

Militärisch kann die Hamas in dem Konflikt nur verlieren, ihre Truppen werden einen hohen Preis zahlen. Den israelischen Streitkräften haben sie wenig entgegenzusetzen. Die Kämpfe werden sich rasch von Israel in den Gazastreifen verlagern. Die Luftwaffe wird die Kommandozentralen, Raketenstellungen und Waffenfabriken der Hamas in Schutt und Asche bomben. Zivile Opfer sind in dem dichtbesiedelten Küstengebiet programmiert, der Rückhalt des Westens ist der Regierung von Benjamin Netanyahu aber vorläufig sicher.

Doch auch wenn die Hamas militärisch verlieren wird, könnte ihr zynisches Kalkül aufgehen. Denn die wahrscheinlichste Erklärung für den Angriff ist, dass sie damit Netanyahus Bemühungen um die Normalisierung der Beziehungen mit Saudiarabien torpedieren will. Wenn es in Gaza zu Häuserkämpfen kommt und Tausende Palästinenser sterben, wird an eine Annäherung mit den Saudi tatsächlich auf absehbare Zeit nicht mehr zu denken sein.

Die Hamas hätte viel zu verlieren durch eine Aussöhnung Israels mit dem wichtigsten arabischen Land. Mit der Offensive geht es ihr also vor allem um den eigenen Machterhalt. Die Interessen der 2,3 Millionen Einwohner des Gazastreifens sind für sie sekundär. Der Bevölkerung, die seit der Machtergreifung der Hamas 2007 unter einer Blockade lebt und in den Kriegen mit Israel regelmässig einen hohen Preis zahlt, wäre eine Zukunft ohne die Islamisten zu wünschen.

Die Armee wird die Hamas kaum zerschlagen können

Doch die israelische Armee wird trotz ihrer Überlegenheit die Hamas kaum zerschlagen können. Dafür ist diese viel zu tief im Gazastreifen verwurzelt. In Anbetracht ihrer weitverzweigten Tunnelsysteme ist dies auch ganz buchstäblich gemeint. Eine dauerhafte Besatzung kommt für die Armee nicht infrage, über kurz oder lang wird sie die Truppen wieder abziehen müssen. Am Ende des Krieges wird die Hamas wohl stark geschwächt, aber nicht komplett besiegt sein.

Eine langfristige Lösung für den Gaza-Konflikt kann nicht militärisch, sondern nur politisch erreicht werden. Die Bevölkerung, die in Gaza wie in einem Freiluftgefängnis lebt, braucht eine Perspektive. Möglich ist dies nur, wenn die Konfliktparteien eine Lösung finden, die beiden Völkern in Israel-Palästina ein Leben in Würde, Wohlstand und Sicherheit erlaubt. Viele Israeli meinten, die Lage der Palästinenser einfach ausblenden zu können. Die blutige Eskalation von Samstag zeigt aber, dass es dauerhaften Frieden so nicht geben kann.

84 Kommentare
Paul Buchegger

Bin 82-jähriger Schweizer und habe in all den Jahren die Geschehnisse im Nahen Osten immer mit Interesse verfolgt. Schon der ehemalige jüdische Generalstabschef während des Sechstagekrieges von 1967 (Angriff Ägyptens, Syriens und Jordaniens gegen Israel) und spätere Ministerpräsident Yitzhak Rabin hatte erkannt, dass ohne Zweistaatenlösung kein dauerhafter Friede möglich sein wird. Er sprang zusammen mit Jassir Arafat (damaliger Chef der PLO) über den eigenen Schatten und entschloss sich zum Friedensprozess, der in die Abkommen Oslo I (1993) und Oslo II (1995) mündete. Beide erhielten darauf den Friedensnobelpreis. Doch der Führer der israelischen oppositionellen Likut-Partei, Benjamin Netanyahu, hetzte gegen Rabin und dessen Gattin Lea und nannte sie Verräter. An einer Kundgebung Netanyahus in Jerusalem trugen seine Likut-Anhänger sogar Posters, auf denen  Rabin in SS-Nazi-Uniform abbildet war. Der dadurch fanatisierte jüdische Student Jigal Amir erschoss dann seinen eigenen Ministerpräsidenten Rabin am 4. November 1995 anlässlich einer Friedensdemonstration in Tel Aviv. Später kam derselbe Netanyahu an die Macht und verfolgt seither eine völker- und menschenrechtlich unhaltbare Siedler-Politik sowie die Annexion der durch Israel seit 1967 besetzten Westbank. Und so wird die brutale Gewalt auf beiden Seiten weitergehen bis vielleicht wieder ein israelischer Politiker mit der Einsicht und dem Weitblick eines Yitzhak Rabin gewählt wird....

Wolfgang Krug

Während Netanyahu seine antidemokratische Agenda vorantrieb und die Bevölkerung spaltete, hat er die Sicherheit Israels vernachlässigt. Die Hamas ist eine Mörderbande würdig eines Putin. Aber auch Netanyahu fand es nie der Mühe wert, sich um Ausgleich zu bemühen. Er trägt ein hohes Mass an Verantwortung für die jetzige Situation.

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